Steirische Weihnachtsgeschichte – Graz, 1935 (Adele Trummer)

Vierzehn Tage nach meiner Geburt wurde ich ein „Kostkind“ – meine Mutter gab mich zu einer Pflegefamilie. Sie musste viel arbeiten und konnte mich dabei nicht brauchen, ich war ja nur ein „Kind der Liebe“, also ein lediges Kind.

Ich ging die ersten 5 Jahre in St. Margarethen a. d. Raab zur Schule. Während meiner Schulzeit bekam ich per Post jedes Jahr zu Weihnachten ein großes Packerl von meiner Mutter geschickt. So fuhr der Sohn meiner Ziehmutter, der Jakob, mit dem Rad zur Post und holte das Packerl ab, ich war natürlich immer ganz aufgeregt. Ich musste mich aber immer bis zum Heiligen Abend gedulden. Das Packerl wurde dann in der hinteren Stube, wo auch der Christbaum stand, verstaut. Aber ich schaffte es immer wieder, heimlich meine Ziehmutter beim Auspacken zu beobachten, und so wusste ich vorher schon, was meine Mutter mir zu Weihnachten schickte – Süßigkeiten und meistens Gewand – es war lustig.
Zum Essen gab es dann einen guten Braten mit einem selbstgebackenen Weißbrot, es schmeckte herrlich. Danach gingen wir zur Mette beten, wir alle hatten eine Laterne in der Hand – es war schön anzuschauen.

Nach der Volksschulzeit kam ich aufgrund meiner guten Noten nach Graz auf Kost zu meiner Tante und besuchte dort die Hauptschule Grabenstraße. Ich war nicht immer sehr verträglich und so kam es einmal zu einem heftigen Streit zwischen meiner Cousine und mir, wobei ich sie im Zuge dessen kräftig gegen die Türe stieß. Es blieb nicht ohne Folgen – ich musste meine Tante verlassen und kam bei einer Greißlerfamilie in der Klusemannstraße unter. Dort konnte ich nach Abschluss meiner Schule eine Lehre als Kauffrau machen, und eigentlich ging es mir nicht schlecht bei den Erwinger’s, den Kaufleuten.

Eines Tages verstarb unerwartet meine Chefin und so lag es dann an mir, auch das Kochen für uns zu übernehmen – es war ja sonst keiner mehr da. Ich hatte damals allerdings keine Ahnung vom Kochen. Zum Glück kam anfangs die Frau vom Bäcker, die einen Stock über uns wohnte, zu uns
und half mir. Es gab immer viel zu tun – zu dieser Zeit war Österreich schon von Hitler besetzt. So musste ich regelmäßig
sämtliche Lebensmittelkarten für Kaufleute beim Kolonieimport einlösen, um so unsere Kunden rechtzeitig versorgen zu können. Es gab nicht viel zu dieser Zeit, Kakao, russischen Tee oder Bohnenkaffee waren Mangelware – Hitler ließ ja nichts mehr einführen. Auch Zuckerl holte ich zu Fuß mit dem Rucksack in der Stadt, damit die Kinder unserer Kunden zu Weihnachten etwas bekamen. Ich musste um fünf Uhr in der Früh aufstehen und mich lange anstellen, sonst hätten wir nichts mehr bekommen.

Nach einem langen Arbeitstag gab es dann am Heiligen Abend für meinen Chef, seinen Sohn und mich ein gemeinsames Essen. Einen guten Braten oder auch manchmal ein Huhn, das ich vom Bauern aus meiner Heimat am Land holen durfte. Einmal, ich erinnere mich ganz gut, vergaß ich, das Huhn zu salzen. Mein Chef ließ sich nichts anmerken und ich war auch ganz still, es wurde ja trotzdem gegessen. Nach dem Essen gingen wir dann zur Christmette. Auch am Christtag gab es nochmal ein gutes Essen – Fleisch, Gemüse, Erdäpfel und Salat –, aber keinen Reis, den gab es nicht mehr. Geschenke unterm Christbaum waren allerdings sehr spärlich, Strümpfe oder vielleicht Taschentücher. Ich war damals ein siebzehnjähriges Mädchen, ich hatte nicht viel Ahnung, aber ich hatte eine Arbeit und bekam zu essen – ich war zufrieden.

Aus dem Buch:

ISBN 978-3-85365-251-0
Hans Marsam
Steirische Weihnachtsgeschichten
96 Seiten, S/W-Abbildungen, Hardcover
€ 14,95

Jeden Menschen verbinden ganz persönliche Erinnerungen mit Weihnachten – fröhliche, traurige, besinnliche, heitere oder aufregende. Die schönsten Weihnachtsgeschichten aus 100 Jahren wurden dem Autor von den unterschiedlichsten Menschen in Interviews erzählt, transkribiert und hier veröffentlicht, wie z. B. Brief ans Christkind, Der erste Baum, Weihnachten mit einem Flüchtling aus Ungarn, Das letzte gemeinsame Fest oder Weihnachten während des Zweiten Weltkrieges im Bombenhagel in Berlin.